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© Holger Kames 2000, Letzte Aktualisierung: 10.04.2002

 Der Eisenbahnfan Holger Kames

4. Kapitel - Selbst Laufen lernen (II)

Erster Schritt auf dem Wege war die Suche nach einem geeigneten Bahnbetriebswerk, denn zum Bw Sangerhausen wollte ich wegen des zeitraubenden Anfahrtsweges nicht wieder. In anderen Städten, wie Erfurt oder Halle/S. konnte ich kurzfristig keine Wohnung, ja nicht einmal ein geeignetes Zimmer zur Untermiete bekommen! Die Deutsche Reichsbahn litt ständig unter Personalmangel und so gab es schon Mittel und Wege "zur Beschaffung von Wohnraum" und "zur Heranführung von Arbeitskräften", wie man es damals nannte. Aber "von jetzt auf gleich" ging auch das nicht! Schließlich erfuhren die bereits erwähnten Verwandten in Staßfurt von meiner Misere und boten mir ein Zimmer an. Das erschien mir geradezu ideal, rückten doch die geliebten Dampfloks in greifbare Nähe! Beim zuständigen Bw Güsten war man natürlich sehr daran interessiert, mich zum Lokführer zu qualifizieren. Aber zunächst sollte ich wegen des Personalmangels für ein viertel Jahr als Hemmschuhleger auf den Rangierbahnhof (man nannte das "sozialistische Hilfe") und mindestens ein halbes Jahr als Beimann auf die Diesellok. Auch wenn ich immer wieder mal von schrecklichen Unfällen beim sogenannten Rangieraufgebot gehört hatte, mußte ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Als ich dann noch sagte, daß ich anstelle der Beimannzeit lieber in Staßfurt als Heizer fahren würde, hätte mich die Kadertante fast umarmt. Diesen Job wollte ja nun gleich gar keiner mehr machen, und nun meldete sich auch noch so ein Verrückter freiwillig! Meine Bewerbung wurde deshalb auch positiv beschieden und ich erhielt gleich die Einladung zur obligaten Tauglichkeitsuntersuchung.

Wenig später erhielten wir, ein weiterer junger Kollege und ich, in irgendeinem Bahnhofsbüro unsere Order: "Ihr geht in die Brigade 3 zu Eckart Jordan. Das is´n richtiger Dorfkantor, da habt´er nischt zu lachen!" Solcherart aufgemuntert meldeten wir uns am nächsten Morgen auf der Westseite des Bahnhofes Güsten in der Rangiererbude. Ein finster dreinblickender Hüne mit einem langen Rangierermantel, Gummistiefeln und zwei roten Streifen an einem Helm, der irgendwann mal weiß gewesen sein mußte, empfing uns. Er und seine Gesellen beäugten uns Neuzugänge skeptisch. Auch machte die Rangiererbude den Eindruck, als sei sie zu Kaisers Zeiten das letzte mal renoviert worden. Das konnte ja heiter werden...! "Na Jungs," sagte der Rangiermeister "jetzt rooch´mer erst mal ne Zijarre!" Wir zwei Neulinge blickten uns fragend an. Was tun? Die Zigarre ablehnen und damit gleich am ersten Tag den Meister verprellen? Oder die Zigarre annehmen und sich so der Gefahr einer mittleren Vergiftung aussetzen? Wir entschieden uns für das kleinere Übel - die Zigarre! Da hellte sich des Meisters Gesicht spürbar auf und er sagte im schönsten Güstener Dialekt: "Jungs, ihr seid de ersten, die von mich ´ne Zijarre nehm´, aus euch mach´ ich jute Schlappenlejer!". Dabei schlug er uns mit seiner Pranke auf die Schultern, daß uns beinahe der Arm abfiel! Und er bemühte sich wirklich, aus uns gute Hemmschuhleger zu machen! Zunächst sollten wir seinem besten Mann zuschauen und lernen, wo und wie man einen Hemmschuh richtig auf die Schiene legt, wo man danach Aufstellung zu nehmen hat, wie man einen Hemschuh im richtigen Moment wieder unter dem Rad hervorbekommt, wie man den Ablaufzettel liest, wie die Gleise heißen, wann welcher Zug abzufahren hat, wie man richtig kuppelt, welche Rangiersignale es gibt, wie sie gegeben werden, bei allem gesunde Knochen zu behalten und noch vieles, vieles mehr... Da stürmte schon eine Menge innerhalb kürzester Zeit auf uns herein und es war gar nicht so leicht, einen Überblick zu bekommen! Dann wurde uns beiden ein Gleis zugeteilt, in welches nur wenige Wagen liefen. Später erhielt jeder von uns ein Gleis mit nur wenigen Abläufen. Als wir uns auch dabei nicht als völlig unbegabt erwiesen hatten, ging es weiter mit Vorsichtswagen, bei denen zur Sicherheit zwei Hemmschuhe ausgelegt werden mußten. Geschick erforderte es auch, eine Wagengruppe "auf Bremse" vom Berg zu holen. Oft war diese Handremse nur mittels eines seitlich am Wagen angebrachten Handrades zu bedienen. So mußte man sich entscheiden, im halsbrecherischen Trab nebenher zu laufen, oder (natürlich verbotenerweise!) an die Seitenwand des Wagens gekrallt das Handrad irgendwie mit dem Fuß zu drehen. Dieses Unterfangen verlangte mitunter artistische Anstrengungen und wurde von uns verharmlosend "Rastelli-Bremse" genannt... Einen Zug mit etwa 100 Achsen zu kuppeln, bedeutete ungefähr vierzig Mal unter den Puffern hindurchzukriechen, die Kuppelkette einzuhängen und zusammenzudrehen (trotz Schwergängigkeit!), die mitunter recht steifen Bremsschläuche einzuhängen, wieder unter den Puffern hindurchzukriechen, ...und natürlich etwa 500 Meter Fußweg. Meistens standen gleich zwei zu kuppelnde Züge nebeneinander. So war man in einer Schicht gut und gerne 10 - 12 km zu Fuß unterwegs. Nicht zuletzt bestand unsere Aufgabe auch darin, bei langen geschobenen Rangierabteilungen die Rangiersignale zu übermitteln, die Zugloks an - und abzuhängen, Brennbares für den Badeofen zu besorgen, Hemmschuhe zu pflegen und ab und an eine Sonderschicht zu schieben... Normalerweise hätte unsere Truppe mit Rangiermeister, Loshänger am Berg und drei Hemmschuhlegern besetzt sein müssen (sog. 1 - 4 - Besetzung). Aber was ist auf der Eisenbahn schon normal! So gab es in den Rangierkolonnen grundsätzlich nur drei Rangierarbeiter und den Rangiermeister, der dann gleichzeitig auch der Loshänger am Berg war (1 - 3 - Besetzung). Da waren wir zwei "Hilfsrangierer" schon eine gern gesehene Erleichterung. Oft hetzten wir bepackt mit zwei, drei Hemmschuhen quer über den Bahnhof zu einem Gleis, wo zwar ein Wagen hinlief, Eckart aber schlichtweg keinen Mann hinstellen konnte. "Mensch, ihr habt mich widder jerettet!", sagte er dann meistens, und es war wieder ein Schlag auf die Schulter oder eine Zigarre fällig. Wenn es dann doch mal einen "etwas harten" Rangierstoß gegeben hatte, Ladung verschoben war oder sich ein G-Wagen unvermittelt einer Schiebetür entledigte, war garantiert immer einer von der Transportpolizei in der Nähe. Einen Schuldigen gefunden und bestraft hat man immer schnell bei der Eisenbahn... Aber auch da mußte man sich bloß zu helfen wissen! Bei einem Ablauf hatte ich mich mal gründlich verschätzt: An der Spitze einer Wagengruppe lief ein leerer "Emil". Dessen Bremswirkung auf dem Hemmschuh war gleich null und von hinten drängelten beladene Wagen. Es krachte also gewaltig! Die Daumenwelle, welche die Kopfklappe des "Emils" verriegelte, brach ab und die Klappe schlug auf und wieder zu. Ich schmierte flugs die Bruchstelle mit Dreck ein und entsorgte das abgebrochene Ende auf einem mit Schrott beladenen Wagen. Den hinteren Wagen war glücklicherweise nichts geschehen. Der herbeigeeilte Transportpolizist stellte mit Kennermiene "Eindeutig ein alter Bruch!" fest und ich kam noch einmal glimpflich davon. Ebenso großes Glück hatte ich, als mir mal ein Zementsilowagen "durchmarschierte". Auf Gleis 65 sprangen oft die Hemmschuhe ab, und so hatte ich sicherheitshalber schon drei Stück für diesen einen Wagen ausgelegt. Die flogen aber einer nach dem anderen weg und mein "Uce" schoß ungebremst von dannen! ...bis er unter Entwicklung einer riesigen Staubwolke auf einen anderen Zementsilowagen krachte. Dieser verkeilte sich dann mit dem großen Sicherungshemmschuh vom Gleisende hoffnungslos im Herzstück einer Weiche. Es half kein Vorschlaghammer, wir mußten erst das Herzstück auseinander schrauben, um den Sicherungshemmschuh wieder frei zu bekommen!

Es kam vor, daß ein Rangierer Urlaub hatte, dann noch einer krank wurde (komischerweise immer bei den "drei Nächten" des Vier-Brigade-Planes...) und auch der dritte aus irgendwelchen anderen Gründen nicht zum Dienst erschien. Dann stand Eckart mit uns beiden Grünschnäbeln alleine da! In solch einem Fall hätten sich normalerweise die beiden Kolonnen von Ost- und Westseite zu einer Truppe zusammengeschlossen und die ganze Arbeit gemeinsam erledigt. Doch wir zwei Heißsporne wollten uns und aller Welt beweisen, daß wir es auch alleine schaffen! So entkuppelte unser Meister die Wagen nicht auf dem Scheitel des Ablaufberges, sondern kurz vor der Bergweiche. Dadurch war die Ablaufgeschwindigkeit geringer und wir hatten etwas mehr Zeit, von Gleis zu Gleis zu hetzen und die Hemmschuhe auszulegen. Die gemütliche Frühstückspause in der Kantine entfiel natürlich ersatzlos, zum Schichtende am frühen Morgen waren wir fix und fertig und unsere Blauäugigkeit war gründlich geheilt... Wenn wir personalmäßig allerdings mal stark besetzt waren und Eckart nicht loshängen mußte, dann ging er an die "Kratze". So nannten wir die Vorbremse mit Hemmschuh-Auswerfeinrichtung kurz unterm Berg. Der Meister hatte dabei den Bogen so perfekt heraus, daß die Wagen in den Richtungsgleisen fast ohne unser Zutun sanft und kuppelreif zusammenliefen.

Ich ziehe den Hut vor den Kollegen, die diese harte Arbeit jahraus, jahrein, bei Wind und Wetter und zu jeder Tages - und Nachtzeit verrichten! Ständig ist die Angst dabei, einen möglicherweise tödlichen Fehler zu begehen...

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