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© Holger Kames 2000, Letzte Aktualisierung: 25.04.2004

 Der Eisenbahnfan Holger Kames

3. Kapitel - In der Lehre (I)

Eines Tages lag die Einladung zum Unterzeichnen des Lehrvertrages im Briefkasten. Die vorhergehende Tauglichkeitsuntersuchung war ohne Probleme verlaufen. Ich fuhr mit meinen Eltern ins Bahnbetriebswerk Erfurt, wo ich mich um eine Lehrstelle als Fahrzeugschlosser mit Abitur beworben hatte. Die feierliche Veranstaltung fand in der seinerzeit (1976) sehr modernen Betriebs-Berufsschule (BBS) statt, und so spürte ich zum ersten Mal die Atmosphäre einer solchen Einrichtung. Auf einem Gleis im Freigelände stand eine T12 mit historischen Reisezugwagen, überall in den Gebäuden hingen Bilder auch mit alten Eisenbahnmotiven, die meisten Eisenbahner trugen ihre Uniform. Ich hatte den Eindruck, in eine große und vor allem traditionsbewußte Familie zu kommen. Vor der Unterzeichnung der Lehrverträge wurden die üblichen, ideologisch gefärbten Reden gehalten. Bei einigen Rednern merkte man allerdings, daß sie doch lieber Eisenbahnfachwissen vermitteln wollten, als ein lästiges politisches Pflichtprogramm zu absolvieren. Eher nebenbei erfuhren wir dann noch, daß die Berufsausbildung zum Fahrzeugschlosser mit Abitur nicht in Erfurt, sondern im Reichsbahn-Ausbesserungswerk Wittenberge stattfinden sollte. Es dauerte schon eine Weile, sich mit dem Gedanken anzufreunden, drei Jahre lang jedes Wochenende etliche Stunden der kostbaren Freizeit für die Bahnfahrt zu opfern... Nach der Unterschrift wurden wir per Handschlag als zukünftige Eisenbahner begrüßt. Auch wenn ich mich als das kleinste Licht der Reichsbahn fühlte, war ich doch mächtig stolz, dazu zu gehören.

Zu Beginn der letzten großen Sommerferien erhielt ich von der BBS "Wiethold Schubert" in Wittenberge die nötigen Unterlagen. Darin stand, was zum Lehrbeginn an Gegenständen, Arbeitskleidung etc. mitzubringen sei, und sogar, welche Farbe die zum Sportunterricht zu tragende einheitliche Sportkleidung haben müsse. Außerdem gab es noch ein Merkblatt für die vormilitärische Ausbildung in der "Gesellschaft für Sport und Technik" (GST), deren Mitglieder wir automatisch und ungefragt zu werden hatten. Die Lehre begann also zunächst im sogenannten GST-Lager. Unsere zukünftigen Lehrmeister waren die Gruppenführer, die höheren Chargen wurden von den Lehr-Obermeistern dargestellt. Ich wurde wegen einer jahrelangen Sport-Teilbefreiung in die Küche abkommandiert, so daß ich nicht wie meine Kameraden über die Sturmbahn hetzen und anderen Blödsinn treiben mußte. Stattdessen konnte ich meine Gruppe bei der Essenausgabe bevorzugen, was den anfänglichen Neid auf meinen "Drückeberger-Posten" etwas milderte. Zurück aus dem GST-Lager folgte noch ein "freiwilliger" Wochenend-Einsatz bei der Obsternte in Perleberg. Das Wetter war ziemlich regnerisch, so daß wir unsere obligatorische Raucherpause in einem winzigen einachsigen Bauwagen machten. Dort dampften nicht nur ca. 15 Zigaretten, sondern auch unsere regenfeuchte Arbeitskleidung. Weil es einen Ofen nicht mehr gab, leitete das erhalten gebliebene Ofenrohr nun unseren Qualm nach draußen. Ich kann mich noch an das verdutzte Gesicht eines Mitlehrlings (und passionierten Nichtrauchers) erinnern, der angesichts des qualmenden Ofenrohres glaubte, im behaglich geheizten Bauwagen Unterschlupf finden zu können...

Zurück vom Ernteeinsatz richteten wir uns so gut es ging in unserem Vier-Bett-Zimmer des Lehrlingswohnheimes ein, und das allgemeine Kennenlernen unter uns "Neuen" begann.

Außerdem gab es an der nächsten Kreuzung "Lehner´s Eck", eine gemütliche Kneipe. Die Berufsschule lag unserem Wohnheim gegenüber und war ebenso wie der dazwischenliegende Appellplatz Mitte der fünfziger Jahre entstanden. Zu einer Zeit also, als es mit der Deutschen Reichsbahn langsam wieder bergauf ging.

Am nächsten Tag lernten wir unsere Lehrer kennen. Unsere Klassenlehrerin, Frau Kintat, war Anfang dreißig, Doktor für Anglistik, stammte aus Berlin und war uns sofort sympathisch. Was wir mit ihr später so alles erlebt haben... Sie verstand manchen Spaß, sprach unsere Sprache und war uns auch im kritischen Hinterfragen mancher Dogmen ein Vorbild. Noch heute denke ich an diese Frau mit Hochachtung, leider lebt sie nicht mehr. Über unseren Sportlehrer Konrad ("Conny") Landsmann - einen ruhigen Herrn mit schlohweißem Haar - lächelten wir zunächst: Seine Baumwoll-Trainingshose war an mehreren Stellen geflickt und auch sein Trikot schien den Lumpen gerade noch einmal davongekommen zu sein. Als er uns am Barren etwas vorturnte, beschämte er uns in unserer jugendlichen Überheblichkeit jedoch gewaltig. Gerne erinnere ich mich auch an Otto Bleick, unseren Lehrer für Fahrzeugkunde und Fachzeichnen. Wenn er seinen Monolog beim Dieselmotor begann, konnte es sein, daß er ihn bei den kaputten Schuhen seiner Frau beendete. Allerdings konnte niemand so gut wie er die technischen und auch die technikhistorischen Zusammenhänge erklären. Er schilderte z.B. die Gemischbildung im Dieselmotor oder die Vorgänge im Strömungsgetriebe so anschaulich, daß man meinte, dabeigewesen zu sein und alles in Zeitlupe selbst gesehen zu haben.

Die praktische Ausbildung erfolgte im Raw Wittenberge. Dieses war seinerzeit für die Aufarbeitung aller Triebwagen und Doppelstockfahrzeuge der DR zuständig. Die Geschichte der ehemals preußischen Hauptwerkstätte geht auf die Existenz der Strecken nach Berlin, Hamburg und Magdeburg zurück und dürfte in der einschlägigen Literatur hinlänglich beschrieben sein.

Die Lehrwerkstatt des Raw Wittenberge war ein großer Saal über der Dreherei, den man durch halbhohe Zwischenwände in Lehrkabinette mit Werkbänken, ein Lehrkabinett mit Werkzeugmaschinen und eine kleine Schmiede aufgeteilt hatte. Wir beschäftigten uns fast das gesamte erste Lehrjahr mit den "Grundlagen der Metallbearbeitung". Unsere erste Arbeit war ein sogenannter Anreißschieber. Dieses Werkzeug hatte zwar kaum einen praktischen Nutzwert, war aber sehr gut als Übungsstück geeignet. Zunächst lernten wir, die technische Zeichnung in mehreren Ansichten zu erstellen und zu lesen. Alsdann machten wir uns an die Herstellung des mehrteiligen Werkzeuges, was neben sägen, bohren und Gewinde schneiden vor allem eines bedeutete: feilen, feilen und nochmals feilen! Heute bin ich froh über die antrainierten Fertigkeiten, damals jedoch war dieses Geduldsspiel nicht jedermanns Sache. Wir nutzten deshalb manche Gelegenheit, uns aus der Lehrwerkstatt davonzustehlen und das gesamte Werksgelände zu erkunden. In den Richthallen sah man, wie die Fahrzeuge komplett aufgearbeitet wurden und wie tonnenschwere Bauteile an Kranhaken durch die Lüfte schwebten. Geschäftig surrten Gabelstapler und Elektrokarren hin und her. Fauchende Gasflammen erhitzten Radreifen. In der rußigen Schmiede hantierten hünenhafte Gesellen mit glühenden Teilen. Der Schaltsaal der Energiewarte schien mit seinen messingpolierten Anzeigeinstrumenten einem Jules-Verne-Buch entnommen zu sein. Im Heizhaus entdeckte ich einen Kessel, der offenbar schon zu Kaisers Zeiten den Zylindern einer G8 Leben eingehaucht hatte. Auf dem Schrotthof standen etliche alte Fahrzeuge.

Einige Geräteschuppen oder Spezialwerkstätten waren aus Wagenkästen von 410-PS-Einheitstriebwagen entstanden. Übrigens konnte das geübte Auge auch außerhalb des Raw manche Gartenlaube und manchen Schuppen als ehemaligen Triebwagen identifizieren. Eisenbahnfans wie wir konnten sich gar nicht sattsehen an den vielen interessanten Dingen. Außerdem erwies sich die erworbene Ortskunde später oft als vorteilhaft, wenn es hieß: "Geh´ doch mal zum Kollegen... und hol mal...".

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