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© Holger Kames 2002, Letzte Aktualisierung: 04.07.2003

 Der Eisenbahnfan Holger Kames

4. Kapitel - Selbst Laufen lernen (V)

Die meisten Dampflokführer boten einem das "Du" an, sobald man sich als halbwegs brauchbarer Heizer erwiesen und auch mal in einer kritischen Situation bewährt hatte. Drei Lokführer sprach ich jedoch stets mit "Sie" an: Siegfried Tesche und Otto Balke aus Hochachtung; und den dritten, weil er allgemein unbeliebt war. Eine unserer Reko-50er hatte eine unangenehme Eigenschaft. Manchmal sprang der Regler beim Betätigen ruckartig in die voll geöffnete Stellung. Der Lokführer hatte dann große Mühe, den Regler zu schließen und das "durchgehende Pferd" mit der Bremse zu bändigen. Als ich eines Tages zusammen mit dem unbeliebten Kollegen auf dieser Lok fahren sollte, warnte ich ihn vor den Tücken unseres Gefährts. "Haben die Heizer heutzutage auch schon was zu sagen?!", brummelte er unwirsch. Es kam, was kommen mußte! Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, als ihn der Reglerhebel förmlich mit nach vorne riß und halb über den Steuerbock zog. Der Handgriff der Steuerkurbel stieß ihm dabei kräftig in die Magengrube, die Lok riß noch einen ordentlichen Schluck Wasser über und schoß über den Bahnhof wie ein geölter Blitz! Schließlich gelang es ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht, den Regler zu schließen und die Lok anzuhalten. Und ich? Ich stand in meiner Ecke und habe grinsend gesagt "Ja, ja, die Heizer haben heutzutage auch schon was zu sagen"! Er sagte die ganze Schicht kein Wort mehr, was mich - ehrlich gesagt - überhaupt nicht störte. Solche unliebsamen Erlebnisse mit Lokomotiven und auch mit Kollegen blieben aber wirklich die absolute Ausnahme!

Viel lieber fuhr ich bei Siegfried Tesche, einem kleineren, etwas korpulenten, ältereren Herrn mit Glatze. Meist hatte er ein freundliches Lächeln auf den Lippen oder sang nicht ganz jugendfreie Liedchen, welche er in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Italien gelernt hatte. Stundenlang konnte er über seine Erlebnisse erzählen! Und fahren konnte er wie kein zweiter: flott aber sparsam! Bei einem Aufenthalt in Eickendorf wegen Kreuzung mit einem Personenzug beobachtete er die Reisenden, die gerne mal quer über die Gleise liefen. Plötzlich begann er, laut zu zählen: "Eins..., zwei..., drei.... Da, noch einer!". Ich fragte ihn, was denn los sei. "Schau mal," sagte er, "so viele mit Glatze!" (Er hatte ja auch eine!) "Ja ja," fuhr er mit eindeutiger Geste fort, "wer in der Jugend viel 'bürstet', hat im Alter nicht viel zu kämmen!"

Sehr gerne fuhr ich auch bei Otto Balke als Heizer. Er war wirklich eine stattliche, gepflegte Erscheinung mit Goldzahn und graumeliertem Haar. Weil er sich nicht an jeder unsinnigen Diskussion beteiligte und manchem Kleingeist etwas unnahbar erschien, hatte er den Spitznamen "Der Baron". Völlig unberechtigt, wie ich oft selber feststellen konnte! Er war einer der wenigen, mit denen man sich auch über anspruchsvollere Themen unterhalten konnte. Außerdem posaunte er niemals in der Lokleitung herum, wenn sein Heizer - also ich - mal etwas falsch gemacht hatte. Das rechne ich ihm noch heute hoch an! Manchmal war ich jedoch auch völlig unschuldig! Wir sollten in Schönebeck-Salzelmen einen länger abgestellten Zug übernehmen. Die Aufsicht bat uns, sie bei der vollen Bremsprobe zu unterstützen, da sie wegen der vielen S-Bahnen wirklich reichlich zu tun hatte. Ich ging ihr also entgegen und überprüfte wirklich jede Bremse auf den gelösten Zustand. Es war ja schließlich meine erste Bremsprobe und ich wollte mir keine Blöße geben. Sehr weit hinten am Zuge traf ich dann auf die Kollegin von der Aufsicht, welche mir eilig den von ihr geprüften Zugteil als in Ordnung meldete. Bald darauf ging es dann los. Das heißt, es sollte losgehen... Irgendwie wollte der Zug nicht so richtig rollen. Das ist bei länger abgestellten Zügen manchmal so, und Otto Balke drehte die Steuerung noch etwas weiter nach vorne. Indes blieb unsere Fuhre bei vollem Schieberkastendruck und voll ausgelegter Steuerung einfach stehen. Eindeutig eine feste Bremse! Vorwurfsvoll blickte mich mein Lokführer über den Rand seiner Brille an. Er gehe jetzt mal selber "nach hinten" und ich solle den Zug festhalten, wenn dieser rückwärtsrollen sollte. Ich war mir keiner Schuld bewußt - denn ich hatte ja jeden Wagen überprüft - und aß erst mal einen Apfel. Aber man weiß ja nie... Nach einiger Zeit hatte er die feste Bremse gefunden. Es war der drittvorletzte Wagen, also nicht "mein" Zugteil...

Wieder einmal standen wir nach einer Personenzugleistung in Sangerhausen am Kohlebansen. Dort hatte man gerade die alten Kesselwagen verschrottet, in denen früher das schwere Heizöl für die Loks der Baureihe 44 gelagert wurde. Das in den Behältern befindliche Restöl, welches bei normaler Temperatur etwa so zähflüssig wie Straßenteer war, ließ man einfach in die Steinkohle im Kolebansen sickern. Wir bekamen eine ordentliche Ladung dieses asphaltartigen Kohle-Öl-Gemisches auf den Tender, obwohl wir mit Straßenbau eigentlich "nichts am Hut" hatten. Damit versuchte ich nun, ein Reservefeuer für das Ausschlacken anzulegen. Das merkwürdige Zeug brannte auch lichterloh, und ich entfernte Schlacke, Asche und alte Glut. Danach versuchte ich, mein Reservefeuer auf dem Rost breitzustoßen. Doch anstatt hell aufzulodern, ging das Feuer einfach aus! Denn es war nicht die Kohle, die da so herrlich gebrannt hatte, sondern das in ihr enthaltene Öl. Ich kratzte aus einer Ecke des Schaufelbleches noch ein paar Krümel trockener Kohle und streute sie auf einige glimmende Stellen. Dann stellte ich den Hilfsbläser vorsichtig an und machte mich la-paloma-pfeifend daran, die Achsen abzuölen. Nach einer Weile rief Otto Balke von oben in den Abölkanal hinunter: "He, Sohne!" (Ein Staßfurter Spezialausdruck für die jüngeren Kollegen) "Hast Du denn auch Deine Taschenlampe dabei?" Ich sagte, daß doch hellerlichter Tag sei, und daß man seine Taschenlampe gar nicht braucht. "So?", meinte Otto, "Dann leuchte doch mal in deine Feuerkiste...!" Dort herrschte in der Tat absolute Finsternis! Meine Hoffnung, daß das Feuer wieder anbrennen werde, hatte sich also nicht erfüllt. 20 Minuten später sollten wir das Bw eigentlich zum Nachschiebedienst am Blankenheimer Berg verlassen! Und der "Kalkmann", den wir nachschieben sollten, hatte immer über 1000 Tonnen! Auch wenn wir in der Abfallgrube viele ölige Putzlappen fanden - das Feuer kam nicht so richtig in Gang. An einem nahegelegenen Gebäude stand jedoch ein hölzernes Baugerüst und die Bauleute machten glücklicherweise gerade irgendwo Pause. Wir schraubten also in unserer Not klammheimlich ein paar Bretter ab und warfen sie in die Feuerbüchse auf die brennenden Putzlappen. Sodann verließen wir schleunigst und mit knapp zehn "Piepen" auf dem Kessel das Bw. Durch eiliges Schaufeln, Bläsern und Herumrühren im Feuer hatten wir bis zur Abfahrt fast wieder Spitzendruck. Kein Wort von dieser Episode erwähnte mein Meister in der heimischen Lokleitung! Ebenso ist nicht überliefert, was die Bauarbeiter zur leicht veränderten Statik ihres Gerüstes sagten...

Jahre später hatten ein Freund und ich mal wieder "in der Gegend zu tun", in der Otto Balke wohnt. Wir statteten ihm einen Besuch ab. Die Freude, daß sich jemand gerne an ihn erinnert, trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Als mein Freund ihm dann noch erzählte, daß ich mittlerweile selbst die Prüfung zum Dampflokführer abgelegt hatte, freute er sich noch mehr. Seine Bemühungen könnten dann ja doch nicht ganz umsonst gewesen sein, sagte er.

 wird fortgesetzt

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